Dienstag, 30. Oktober 2012

Berlin, nicht Paris!

Das ist das Ziel!  Und jetzt geht's los!

Sonntag, den 28. Oktober 2012, 13.00 Uhr
Gestern rief Regina Anna an "Hier schneit's." Sie will mit dem Auto  von Freiburg nach Berlin fahren, weil sie ihr ganzes Equipment mitbringt, Piano, Verstärker, Gitarre, und diverses Zubehör. Und ihre Freundin Roswitha, damit sie die ganze Strecke nicht allein fahren muss. ja, wenn schon, denn schon, hat sie sich gedacht. Keine halben Sachen. Ach du Schande, jetzt schon Glatteis, und es ist noch nicht mal November:
Anna hat's da besser, ICE von Hamburg nach Berlin, 2 Stündchen.  In Berlin  Schöneberg haben sie eine Ferienwohnung gemietet . Zwei Zimmer, Küche, Bad, zu einem sehr zivilen Preis.
In Altona holt sie sich schnell noch einen Latte M. für die Fahrt.
 Sie setzt sich  auf  einen Sitz "Gegebenenfalls freigeben" und packt ihr Sandwich aus. "Da hoffen Sie mal, dass sie nicht aufstehen müssen" tönt es von der anderen Seite.
Eine flotte ältere Dame in einer roten Sweatshirt Jacke guckt etwas muffig zu ihr rüber. Sie hat auch keine Reservierung. Die Ansage erscheint Anna zu uncharmant und sie beißt genüßlich in ihr Sandwich.
Tatsächlich kommt eine junge Dame und will genau Annas  Platz. "Bleiben Sie mal sitzen. wenn niemand kommt, ist es ok." Sie setzt sich ihr gegenüber.
 Anna    packt  zufrieden und nicht ohne Stolz ihren neuen Kindle aus. In Gedanken zählt sie die neunundneunzig gefühlten faulen Tomaten, die ihr die Buchliebhaber/innen mit dem Ruf "Du treulose Tomate" um die Ohren werfen.
Egal, sie findet's toll, so eine ganze Bibliothek mit sich rumzuschleppen. Die meisten Bücher haben nichts gekostet. Klassiker, auf englisch und französisch sogar.
Am Hauptbahnhof kommen noch mehr Leute. Jetzt wollen drei Schweden, ein  älteres Paar mit Freundin oder vielleicht  Tochter, neben ihr die Plätze einnehmen. Die rote Sweatshirtjacke kann aber sitzen bleiben.
Anna hört so Sachen  wie "töng terätin, reipapei ingenting"
Zu ihrem Erstaunen liest sie  über eine Zugfahrt in Schweden (Kurt Tucholsky, Schloß Gripsholm). ."Bei den Schweden wohnt die Sprache weiter hinten, und dann singen sie so schön dabei."
Bei ihr im Zug singen sie sich auch gerade was zu.
Na, im Zug sitzen und übers Zug fahren lesen, das ist doch toll, denkt sie. Dann macht sie der Kindle müde, oder auch das Lesen, denn ihre Nachbarin gegenüber legt auch ihr Buch weg und döst.
Anna  schaut dezent zur Seite. Der alte Schwede ist in sich zusammengefallen und sieht aus wie ein Pastor in Rente.
Als er benommen aufwacht, hat seine Frau die Modalitäten der Reise schon ausgeknobelt. Er  guckt irritiert.
Na, das will er doch noch mal nachprüfen. Sie singen und streiten ein bisschen.
Anna genießt die vorbei fliegende Landschaft. Oh wie schön das aussieht, die  herbstfarbenen Bäume  und Wiesen, sie denkt an die Schilderungen der Landschaft um Schloss Gripsholm, wo die zwei Seelen  sich von der Großstadt  Berlin erholen - so stressig war das schon  1930 - herumliegen und spazierengehen und Whisky trinken.
Und Anna also in die Großstadt. Na gut, war ja das Ziel.
In der Wohnung angekommen, macht ihr der  Manager, Alter 60 plus, auf. 
Die Wohnung ist etwas altmodisch, aber ok. Eigentlich schöner Alt-Berliner Stil, geschmackvoll und liebevoll im Detail.
Er erklärt ihr alles genau. Jede hat  ihr Zimmer, das ist gut.
Fernsehen, W-lan, Spül-und Waschmaschine, alles da, was man/frau braucht. Eigentlich auch ganz gemütlich.
So, mal sehen, wann die Freiburgerinnen kommen. Es ist schon 18.00 Uhr, Um halb neun sind sie los gefahren, sagt  der Gatte, als Anna besorgt in Freiburg anruft. Er habe eine SMS bekommen. Sei alles ok.
Alles klappt. Regina und ihre Freundin kommen heil an. Freunde  haben ihnen sogar einen Parkplatz freigehalten, hier vor der Wohnung. Abends sitzen sie im Restaurant "Romantika" in der Akazienstr. Name ist Programm. Alt Berliner Atmosphäre mit vielen schwarz.weiß Fotos an den Wänden  Es ist rappelvoll.
Regina isst  Spanferkel mit rohen Kartoffelklößen  und geschmorten Weißkohl und Anna eine deftige Gulaschsuppe. 
Montag morgen Aufbau. Sie proben schon mal und machen sich dann auf den Weg zum Garçon. Jean-Paul, der Besitzer, ist sogar da und begrüßt sie freundlich.  "Bonjour mesdames. Wollen Sie sich nicht setzen?" Dann verschwindet er und sie inspizieren die Bühne. Das Café ist zum Mittagessen rappelvoll.
Sie stellen fest, dass man sie  nicht von  überall sehen kann, wenn sie auf der Bühne stehen. Hm, was kann man dagegen tun?
Sie essen erst mal was. Das Menu. Vorspeise Salat  und Hauptspeise Taboulet mit Buletten, ganz deutsch, und Regina bekommt überbackene Crèpes. Zum Dessert gibt es eine hervorragende Crème Caramel.  Wie von Zauberhand leert sich das Café, als sie ihren Capuccino schlürfen.
 Sie überprüfen noch mal, ob ihre Flyer an einer gut sichtbaren Stelle liegen, finden sie unter Glas in einer Schublade. Die Bedienung erklärt, dass sie gestern noch  obenauf gelegen hätten. 




Sie  machen  noch ein paar Fotos vor dem Lokal und sich dann auf den Heimweg,
Regina hat ihre Handschuhe vergessen. Vor einem 1 € Laden hängen welche. Regina war noch nie in so einem Laden. 
Aber auf den Handschuhen steht   "Nature" drauf. Das überzeugt sie. An der Kasse möchte eine Frau Marmeladengläser bezahlen 
mit Orangen- Bildchen auf dem Deckel. 
Eine andere Kundin sagt: "Oh, da wird aber jetzt kräftig Marmelade eingekocht."" "Nein, nein, da lege ich  Chilischoten ein und beschrifte das schön. Und dann verschenke ich das. Aber leider bekomme ich die Gläser nie zurück."
Regina freut sich über ihre warmen Hände. 
Am Dienstag morgen sind sie fleißig am Proben. Mittags geht es zum  Chinesen, sehr gepflegt. Regina nennt die Einrichtung "state of the art". So ist auch das Essen, das Modernste und Außergewöhnlichste, und dann auch noch "all you can eat", für 6,90€. Sie sind begeistert. 



 Regina denkt laut "Wie kann das Restaurant bei der Qualität und dem Preis existieren?"  Sie wirft einen Blick auf einen Tisch mit gubürgerlichen Gästen, teuer gekleidet.
Sie schämen sich ein bisschen.  Fühlen sich ja auch  zur bildungsbürgerlichen Mittelschicht zugehörig.
 Trotzdem. Regina ist fassungslos: "Die haben sich zu viert einen kompletten Container mit Thai-Rindfilet-Curry auf den Teller geladen!" Die Rechnung fällt extrem günstig aus und sie geben ein gutes Trinkgeld, welches von dem Ober mit einem dankbaren Lächeln entgegengenommen wird.
Anschließend fahren sie nach Berlin Mitte

 und wandern zum Café
Einstein "Unter den Linden". 
Jetzt fallen auch bei ihnen die Hemmungen. Regina bestellt einen Prosecco und ein Sacher Petit four.
Anna  besteht auf einem Capuccino plus Tarte aux Myrtilles mit Sahne.

Abends, nach einer ausführlichen Probe,

 isst Regina Hasenbrote von der Reise (geschmiert letzten Samstag nacht), immer noch frisch, auch die Eier, und trinkt dazu ein Tannenzäpfle.
Anna bevorzugt den badischen Grauburgunder, den Regina ihr fürsorglich mitgebracht hat. 
Am Mittwoch wacht Anna mit Halsschmerzen auf. Och nee, denkt sie mit etwas Panik. Erstmal Aspirin einpfeifen. Dann wird geprobt.
Einmal kompletter Durchgang. Klappt doch schon ganz gut, denkt
Anna, doch Regina bleibt skeptisch. Sie fürchtet sich vor Blackouts
wie die Prinzessin vor dem Frosch. Panikattacke pur.
Na, aber jetzt erstmal schön was essen, das beruhigt. Im Café Sur
essen sie , Anna, Pasta mit Trüffelbutter und gebratenen Champignons und Regina eine leckere Suppe. Danach geht's in die 
Chocolaterie am Winterfeldplatz, eine umgebaute Apotheke.  
Anna und Regina verspeisen genüßlich ihre Minikuchen   und schlürfen ihren Capuccino bzw Espresso. Nachmittags ruft Annas Sohn aus Kapstadt an. Er gibt gute Ratschläge. "Du machst  dir 'nen Ingwertee mit Zitrone, und dann klappt das schon." Anna ist halbwegs beruhigt.
Am Donnerstag  wird es etwas ernster, die Erkältung blüht. Also raus und Gegenmaßnahmen ergreifen: diverse Schnupfen und Hals-Lutschtabletten, Tropfen und Salben landen bei DM im Einkaufskorb. Auf dem Heimweg wird Anna von einer Trillerpfeife und einem Lautsprecher aus ihrer Ruhe gerissen.
Woher kommt das denn?  Ein Mann auf dem Fahrrad   möchte den Verkehr regeln. Einen Moment denkt Anna, dass es wirklich Polizei ist, dann erkennt sie das Schild. Er arbeite in Deutschland, lebe seit zwanzig Jahren in Deutschland, zahle seine Steuern, dürfe aber nicht wählen. Die Leute auf der Straße lächeln ein wenig, kennen ihn wohl schon. "Recht hat er," denkt Anna, "ist doch auch eine Sauerei." 
Im Gemüseladen ist kein Verkäufer zu sehen. Anna sucht sich zwei dicke Ingwerknollen aus und sechs unbehandelte Zitronen.  Sie ruft ein paar Mal Hallo, aber niemand kommt.  Vielleicht trinkt er irgendwo seinen Kaffee, denkt sie. Ein Mann mit Pferdeschwanz kommt herein und fragt: "Wo ist Iman?" schaut in den hinteren Raum und sagt dann: "Wahrscheinlich im Coffeeshop." 
Er kommt mit dem Besitzer zurück.
So, jetzt Attacke, sagt Anna zu ihrer Erkältung, als sie wieder zu Hause ist. Die  Erkältung nickt verständnisvoll. 
Nachmittags soll Generalprobe sein vor einer Freundin, einer alten Klassenkameradin von Regina, die sie lange nicht gesehen hat.
Anna ist erstaunlicherweise noch bei Stimme, es gibt ein paar Patzer,  aber es ist überstanden.
Danach trinken alle drei Prosecco. Die Freundin ist glücklich.
Sie musste ein wenig weinen bei den ersten Liedern. Sie beglückwünscht uns. Ihr macht das so charmant, sagt sie.
Anna ist jetzt doch ein bisschen fertig und zieht sich zurück.
Freitag
 Der Tag des Auftritts ist gekommen. Nase schnieft, Ohren etwas zu, Kreislauf noch etwas tüdelig, aber es geht.
Mittags gehen sie nochmal was Richtiges essen bei ihrem Lieblingschinesen, der sie schon wie Stammgäste begrüßt.
Das Buffet? Klar, das Buffet.
Nach einer Mittagsruhe noch rumgepusselt und dann packt Regina schon ein, das volle Equipment, Piano, Gitarre, Verstärkerbox,
diverse Ständer, Mischpult, alle Kabel und so weiter.
Das Auto ist voll. Gegen 18.30 Uhr treffen sie bei Nieselregen beim "Garçon"  ein. Das Lokal ist voll. Sie schleppen alles rein und stellen sich der Bedienung vor. Die ist nett und freundlich. Der Besitzer läßt sich nicht blicken. Zum Wundern haben sie keine Zeit.  Noch mit dem Aufbau beschäftigt, treffen Freunde von ihnen ein. Insgesamt sind es acht. Es stellt sich heraus, dass die anderen Gäste keine Konzertbesucher , sondern zum Treffen mit Freunden und zum Unterhalten gekommen sind. Na, da fangen sie halt mal an. Ein paar Gäste, die sie sehen können, schauen manchmal aufmerksam und hören zu, widmen sich dann wieder ihrem Smartphone oder ihrem Gegenüber. Im Nebenraum wird laut geredet, gelacht und geklappert. Immerhin klatschen die Freunde begeistert.
Regina ist ein wenig genervt, sie hat die Box im Rücken, vorne war kein Platz. Anna ist ganz zufrieden, von ihrer Seite hat alles ganz gut geklappt. Keine Patzer, keine Texthänger.
 Nach dem Auftritt kommt eine ältere Dame, die ein bisschen wie Edith Piaf aussieht, auf die beiden zu. Sie möchte sich für den wunderschönen Abend  bedanken. Sie sei sehr krank gewesen und der heutige Abend habe ihr die Lebensfreude zurück gegeben. Sie hätte einen Wunsch, das Lied "Je ne regrette rien" von Edith Piaf zu hören. Anna und Regina tut es leid, ihr diesen Herzenswunsch nicht erfüllen zu können, weil sie das Lied nicht in ihrem Repertoire haben. Sie umarmen aber die Dame herzlich und bedanken sich.
Den Rest des Abends verbringen sie mit ihren Freunden, die sie teilweise lange nicht gesehen haben.
Essen und trinken bekommen sie gratis.
Jean Paul, der Wirt,  bleibt abwesend. Schade.  
Spät abends alles wieder abbauen, schlepp schlepp ins Auto, schlepp schlepp in die Wohnung.
Am Samstag lassen sie sich baumeln, trödeln und gehen nachmittags ins Kino "Omamamia" mit Marianne Sägebrecht und Annette Frier.   Komödie über drei Generationen, Oma, Tochter und Enkelin.
Zum Abschluss dann zum Inder.  
Noch ein Schlückle in der Wohnung.
Sonntag morgen steht Regina früh auf. Packen, schlepp schlepp schlepp, alles zum Auto und auf nach Freiburg, diesmal ohne 
Schnee und Glatteis. Schon  ein Fortschritt. Tränenreicher Abschied nach einer so aufregenden Woche.
Anna setzt sich in den ICE und steigt in Altona bei Frühlingstemperaturen aus.  
Abends smst Regina. Sie sind heil angekommen, trotz Stau und Sturzregen. 
Beide sind sich einig: Das war eine an- und aufregende Woche,
auch wenn nicht alles so war, wie sie es sich vorgestellt haben. 
No risk, no fun, gel?  

Info Regina Stephan hier 
Info Anna Hölscher hier